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#BeatYesterday Garmin

Text: Hannes Hilbrecht
Fotos und Videos: Maximilian Gierl

Medien

So weit der Wille trägt

8.848 Höhenmeter an einem Tag. 17-mal denselben Anstieg hinauf. An die Grenzen der eigenen Belastbarkeit und weit darüber hinaus. Fußballweltmeister André Schürrle hat das Everesting gewagt – und die Dunkelheit gefunden. Die Chronik vom unentwegten Kampf gegen den Berg – und sich selbst.

Text: Hannes Hilbrecht | Fotos und Videos: Maximilian Gierl | Produktion: Robert Lenz, Juliane Fietkau



Qomolangma. Das ist der tibetische Name für den Mount Everest. Übersetzt: Mutter des Universums.

Für viele Bergsportlerinnen und -sportler bedeutet dieser Gipfel die Vollendung eines beinahe religiösen Lebensziels. Auch für André Schürrle, zumindest im übertragenen Sinn.

Obwohl sich der Ex-Profifußballer mit großen Pässen auskennt, werden ihn die meisten Menschen nicht mit dem Dach der Welt in Verbindung bringen. Dabei stand Schürrle auf dem Gipfel der Fußballwelt, als er 2014 die Fußball-Weltmeisterschaft in Rio de Janeiro gewann. Er gab damals die entscheidende Vorlage zum 1:0-Finalsieg gegen Argentinien.

Seitdem Schürrle im Jahr 2020 seine aktive Karriere beendete, wagt er sich nun an die Tore zum Himmel mitten ins Hochgebirge. Er ist nachts die Zugspitze hinaufgewandert, hat in Polen mit blankem Oberkörper im Schneesturm Berge bestiegen. Das Extreme – es reizt den 33-Jährigen nach seiner Karriere mehr denn je.



Ich will, dass es für mich mental richtig finster wird. Ich will in den Abgrund blicken.

André Schürrle

Über André Schürrle

Name: André Horst Schürrle Geburtsdatum: 6. November 1990 Geburtsort: Ludwigshafen am Rhein, Deutschland Nationalität: Deutsch Größe: 1,84 m Länderspiele: 57 Länderspieltore: 22

Das Projekt

8.848 Meter misst der Mount Everest als höchster Berg der Erde. Ein Ort, für den Extremsportlerinnen und Extremsportler aus aller Welt den größten Preis überhaupt zahlen – das eigene Leben. Jedes Jahr sterben Dutzende auf dem Weg zum Gipfel, viele der Leichen können nicht geborgen werden. Der Mount Everest gilt als das höchstgelegene Grab des Planeten.

Auch deshalb hat sich eine Community geformt, die die Höhenmeter des Everests erklimmen will – das jedoch abseits der damit verbundenen Lebensmüdigkeit. Andere wollen die Mutter des Universums vor einer weiteren Umweltverschmutzung durch den Massenalpinismus bewahren.

Für sie gibt es eine Alternative, die in Europa und Übersee immer beliebter wird: das Everesting. Sportlerinnen und Sportler bewältigen fußläufig, auf Skiern oder mit dem Rad die 8.848 Höhenmeter in einem Rutsch. Wenn man möchte, versetzen sie mit ihrer Willenskraft ganze Berge, aus dem Himalaja in die Alpen.

Gelingt das André Schürrle am 22. Juni 2024 in Bludenz, Bundesland Vorarlberg, Österreich?

Der Weg

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Wenn der Mount Everest das Dach der Welt ist, dann ist der Brandner Golm (1.910 Meter) der Balkon einer Maisonettewohnung im ersten Stock. Für den Everesting-Versuch des Formats Alpin 8 sind die Erhebungen der Region dennoch perfekt geeignet. Denn die Sportlerinnen und Sportler können dank des Profils innerhalb kurzer Zeit viele Höhenmeter sammeln. So legen sie auf einer Runde über 3,8 Kilometer stolze 530 Höhenmeter zurück.

Auf insgesamt 17 Runden übererfüllen die Aktiven die geforderten 8.848 Meter. Die Steigung der Strecke beträgt zwischen 10 und 20 Prozent. Einige Abschnitte gelten als besonders steil. Mehrmals müssen die Aktiven hunderte Meter am Stück bei +15 Prozent Steigung bergauf rennen.

Der Clou: Bergab gehts mit der berühmten Palüdbahn, einer Seilwinde, die das Summit Camp mit der Talstation verbindet. Insgesamt gibt es drei Verpflegungsmöglichkeiten: Das Summit Camp auf 1.600 Metern Höhe, ein Stand auf halber Strecke und die Talstation. Hier beginnt im Morgengrauen der Everesting-Versuch von André Schürrle. Ein Abenteuer, das ihn in die Dunkelheit ziehen wird.

1. Der Start

Samstag, 22. Juni 2024 | 04:58 Uhr



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Puls

Es dämmert noch tief im Westen Österreichs. 500 Frauen und Männer posieren für Fotos, dann pilgern sie zum Startbereich. Vor ihnen ragt der Brandner Golm in die graue Wolkensuppe. Im bleichen Morgenlicht sieht der Weg zur Palüdbahn fast harmlos aus, die Teilnehmenden wirken unbeschwert. Allen voran André Schürrle, der sogar spaßeshalber kurz joggt. Seine Freunde quittieren den Joke mit einem Lachen. André sagt:

Der eine oder andere Zweifel schwirrt im Hinterkopf mit. Das ist aber vor allem Vorfreude. Und Dankbarkeit für die Jungs um mich herum, die mal wieder dabei sind.
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Höhenmeter



2. Die Wiese

Samstag, 22. Juni 2024 | 5:30



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Puls

Mit dem Anbruch der Challenge bildet sich eine lange Menschenkette. Dicht gedrängt, ähnlich wie beim realen Everest, stapfen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer los. Ein Akkordeon aus bunten Laufjacken und -westen dehnt sich Richtung Summit Camp aus. André Schürrle hat ein gutes Gefühl. Die Beine sind frisch, die ersten Meter wirken bequem. Doch der Schein trügt. Das Streckenprofil wird sich bereits beim ersten Kennenlernen mehrmals als “brutal“ erweisen, wie er es später formuliert.

Bereits nach 700 Metern erreicht die Steigung nicht das letzte Mal die 20 Prozent-Marke. Im weiteren Verlauf wird es beständig mit mindestens 13 Prozent Steigung hinaufgehen. Ein Abschnitt sticht als besonders heraus: André tauft ihn “die Wiese“. Er erklärt:

Das geht hier steil berghoch, dazu ist der Boden extrem sumpfig. Er saugt die Füße richtig ein. Es ist schwer, voranzukommen, weil ständig ein Schuh stecken bleibt.

Was manche der Athletinnen und Athleten bereits jetzt im Kopf haben: Nachdem es bereits die vergangenen Tage geregnet hat, könnte der Boden bald noch seifiger werden. Für den Nachmittag sind schwere Niederschläge angekündigt.

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Höhenmeter



3. Die erste Ankunft

Samstag, 22. Juni 2024 | 5:54
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Puls

“Reinspaziert“ prangt in großen Buchstaben an der Holzfassade des Gasthofs Melkboden. Direkt nebenan wurde das Summit Camp aufgeschlagen. Noch klingt die werbende Wortwahl der Schankstube nicht nach beißendem Hohn.

3,8 Kilometer haben die Aktiven in den Beinen, André Schürrle hat die ersten 500 Höhenmeter gut weggesteckt. Die Laune ist positiv. Sogar die Wolkensuppe klart über Bludenz nach und nach auf. Erleichterung? Nicht wirklich. Spätestens die Wiese hat André gehörigen Respekt vor dem Wagnis eingebläut. Er sagt:

Das alles 17-mal machen, am Stück? Das wird eine harte Nummer.
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Höhenmeter



4. Das Wetter

Samstag, 22. Juni 2024 | 7:58



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Puls

Normalerweise freuen sich die Menschen, wenn sich der Heimatstern aus der Wolkendecke schält. Nun wohnt der sommerlichen Freude ein Argwohn bei. Die Luft ist schwül, die schnell steigenden Temperaturen werden das Gehen erschweren. Den Muskeln gehe es gut, versichert André Schürrle. Mehr beschäftigt ihn sein Puls. Richtig konstant war er auf den ersten Runden noch nicht. Dazu werden schon bald höhere Temperaturen den Kreislauf herausfordern. Bis zu 25 Grad soll es warm werden – und das bei hoher Luftfeuchtigkeit.

Schatten hält die Strecke nur in kargen waldähnlichen Passagen bereit. Dazu ist die Schwüle ein Vorbote für etwas, vor dem sich manche am Berg fürchten. André sagt:

Wir haben gestern selbst gesehen, wie stark es hier aus Kübeln schütten kann. Für heute Nachmittag sind weitere Gewitter angekündigt. Mal sehen.
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Höhenmeter



5. Die Taktik

Samstag, 22. Juni 2024 | 9:34
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Puls

Immer wieder schweift der Blick von André Schürrle auf seine fēnix 7 von Garmin. Er weiß: Der Puls muss sich einpegeln, wenn er seinen persönlichen Everest bezwingen will.

Mit 135 bis 140 Schlägen pro Minute will er den Versuch angehen - in der Theorie. In diesem Herzfrequenzbereich kommt er den Umständen entsprechend zügig voran, zugleich schont er seine Kräfte und Muskeln. Sein Herzfrequenz-Brustgurt sendet präzise Daten direkt an die Multisportuhr. Sie ist sein Kontrollmonitor am Handgelenk.

Einmal erschreckt sich Schürrle, weil das Herz deutlich schneller rast als gewünscht, bis zu 164 Mal in der Minute. Er schnauft:

Das ist viel zu hoch. Ich muss mich finden, die Strecke kennenlernen, vor allem die Belastung verstehen und mich selbst kontrollieren. Dafür habe ich nun die ersten drei, vier Anstiege gebraucht.
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Höhenmeter



6. Die Ruhe – vor dem Sturm

Samstag, 22. Juni 2024 | 12:45
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Puls

3,8 Kilometer hoch, zwischen 45 und 60 Minuten pro Anstieg – das haben die Läuferinnen und Läufer nun bereits einige Male geschafft. Besonders entspannend? Der Rückweg ins Tal. Der geht zum Glück deutlich schneller, die Gondel braucht keine zehn Minuten.

Noch ist die Zwangspause für André Schürrle und sein Team keine Herausforderung, im Gegenteil. Die Muskeln kommen kurz zur Ruhe, der Puls senkt sich. Auch die Gespräche von Schürrles Gruppe, die auf der Strecke schon weniger wurden, flackern wieder vereinzelt auf. André nutzt die paar Minuten Erholung fürs Smartphone. Ein kurzer “Check-in“ bei der Familie, wie er es nennt.

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Höhenmeter



7. Das High

Samstag, 22. Juni 2024 | 14:30



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Puls

Die Hälfte ist bald geschafft, sieben Anstiege stecken Andrè Schürrle in den Knochen. Einige der Aktiven darf man beim Genießen des Runners High beobachten. Auch André wirkt gelöst. Taktvoll wie ein Uhrwerk bewegen sich seine Beine. Der Puls ist stabil, die Laune ganz oben. An den drei Verpflegungsstationen versorgt sich André jedes Mal mit Snacks. Nüsse, belegte Stullen, auch Focaccia und Eintopf werden serviert. Etwas trocken sei das italienische Fladenbrot, klagt ein Läufer. Die meisten loben die Verpflegung. Auch André. Am besten kicken bei ihm die Gummibären. Kurzkettiger, ungesunder Zucker, normalerweise. Beim Everesting wird er benötigt.

Flüssigkeit tankt André über seine Laufweste alle paar Minuten auf, an den Stationen wird nachgefüllt. Er erklärt:

Ich will in keinen Zustand von Hunger oder Durst geraten. Das gehört zu meiner Taktik. Wenn ich gut esse, gut trinke, gut mein Tempo halte, es weiter normal läuft, dann kann ich das ewig so gehen.
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Höhenmeter



8. Der Wetterumschwung

Samstag, 22. Juni 2024 | 16:24
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Puls

Es läuft nicht normal.

Am frühen Nachmittag braut sich was zusammen. Der Himmel verfärbt sich rasch wie im Zeitraffer. Aus zunächst zarten Wattebäuschen formt sich eine ähnlich graue Wolkensuppe wie am Morgen. Schnell wird sie sich dunkelblau verfinstern. Wind kommt auf, eine Gewitterzelle hängt über Bludenz.

Donner grollt, Blitze zucken im Nacken des Brandner Golms. Starkregen geht nieder. Vereinzelt sausen sogar Hagelkörner auf André und seine Mitstreiterinnen und Mitstreiter nieder. Der ehemalige Fußballprofi eilt ins Camp. Die klatschnassen Klamotten wechselt er, eine rote Regenjacke soll ihn vor der Nässe schützen. André weiß: Kühlt er aus, wird es eng mit seinem Everest.

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Höhenmeter



9. Eine Hassliebe

Samstag, 22. Juni 2024 | 17:45



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Puls

Das Antlitz des Berges hat an Schönheit verloren. Das ist natürlich Quatsch, aber für die Sportlerinnen und Sportler beschreibt der Satz ein aktuelles Gefühl. Der Berg, das Naturwunder aus Fels und Wald, zieht ein unfreundliches Gesicht.

Der Boden, der mittags etwas trocknete, fast gut begehbar war, ist wieder aufgeweicht. Matsch an den Schuhen, den Knien, bei manchen sogar im Gesicht. Die Menschenkette ist schon seit Stunden in ihre einzelnen Glieder zerfallen. Gruppen gibt es nur wenige. Die meisten leiden für sich allein.

Auch André Schürrle befindet sich mittlerweile zumeist in einem Einpersonen-Reisezug. Die einen Freunde fielen früh zurück, ein anderer preschte vor. Ab und zu überholt er Zurückfallende, andere überrunden ihn. Seine “Brotherhood“, wie er sagt, die Brüder, findet er in unregelmäßigen Abständen. Wichtig für die Psyche! Ansonsten umkreisen die Aktiven den Golm wie einsame Satelliten.

Allein und etwas abgehängt sein – für den Teamsportler und Weltmeister ein ungewohntes Gefühl, aber keineswegs ein schlimmes. André sagt:

Ich liebe es, dass ich hier wieder bei null anfange, dass andere viel besser sind als ich. Dadurch kann ich mehr lernen, mehr über mich erfahren, besser in dem werden, was ich tue.

Also doch Liebe für den Berg? André schüttelt mit dem Kopf:

Bestimmt werde ich das hier irgendwann lieben, also auch den Berg. Aber jetzt hasse ich ihn. Und den Gedanken, dass es noch sieben Runden sind.



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Höhenmeter



10. In den Abend - und die Nacht

Samstag, 22. Juni 2024 | 20:02



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Puls

Diese Monotonie. Mehr als 15 Stunden sind mittlerweile vergangen. Immer denselben Weg, die gleichen Abläufe, die gleichen Gedanken. Kaum noch Ablenkung. Aber dafür wäre der Kopf eh zu kaputt, sagt André Schürrle. Eine kleine Freude gibt es dennoch. Wegen der beginnenden Dämmerung, die durch den bedeckten Himmel etwas eher einsetzt, wird die Route planmäßig angepasst. Ein anderer blöder Weg ist besser als immer derselbe blöde Weg. Auch die Sonne quetscht ein paar Strahlen durch die zuvor betondick scheinende Wolkenschicht.

André rüstet sich mit einer Stirnlampe aus, sogar das ist ein kleiner neuer Impuls. Vor allem deutet spätestens die Nacht an, dass es bald vorbei ist.



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Höhenmeter



11. Die Kälte

Samstag, 22. Juni 2024 | 22:05



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Puls

Bereits 6.500 Höhenmeter sind geschafft. Der imaginäre Gipfel des Mount Everest wirkt in Rufweite. Nah und doch fern. Tausende Kilometer vom Himalaja entfernt kriecht jedoch ein typisches Everest-Problem unter die Klamotten der Teilnehmenden: die Kälte.

Klar, von den bis zu minus 60 Grad Celsius, die einen auf mehr als 8.000 Metern zu Tode frieren können, ist man in Vorarlberg weit entfernt. Doch das Thermometer sinkt trotzdem unaufhörlich. 3 Grad Celsius zeigt es zu Beginn der Nacht an. Hatten die Athletinnen und Athleten mittags über die Hitze und Schwüle geklagt, so hatte sich seit dem Gewitter die klamme Kälte im Verborgenen ausgebreitet.

Auch Schürrle kämpft mit ihr. Er zittert längst nicht nur vor Erschöpfung.



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Höhenmeter



12. In der Gondel

Samstag, 22. Juni 2024 | 22:10
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Was Stunden zuvor Erholung und Abwechslung war, ist plötzlich bitterer Ernst. Entscheidet sich in einer Gondel der Everesting-Versuch? In der Zeit liegt André Schürrle komfortabel. Den Cut nach 36 Stunden, wenn der Veranstalter das Rennen stoppt, muss er nicht fürchten. Aber der Körper klagt immer lauter über Schmerzen und Müdigkeit.

Und nun verspricht die Gondel eine unliebsame Pause. André wird kalt, wenn er sich nicht bewegt. Die Füße schmerzen mehr, wenn sie nicht gefordert sind. Er wickelt sich in Decken, Galgenhumor hilft. Bloß nicht einschlafen, bloß nicht aufhören, aktiv zu sein, scheint André sich zu denken. “Wahnsinn“ – für mehr Worte ist keine Kraft da.



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Höhenmeter



13. Sorgen um Linus

Samstag, 22. Juni 2024 | 23:34
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Die Dunkelheit verschluckt den ehemaligen Ausnahmefußballer nun auch mental. Es ist Nacht, es ist kalt, dazu kommt ein Gerücht, das in Andrè Schürrles Kopf einschlägt.

Es geht um Linus, Schürrles besten Freund. Seit Jahren machen sie wilde Sachen zusammen. Das Ding hier an der Palüdbahn ist nur eines von vielen gemeinsamen Wagnissen.

Doch um Linus, das dringt durch, steht es angeblich nicht gut. Unterkühlt soll er sich im Summit Camp erholen. Hat er sogar aufgegeben?



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Höhenmeter



14. Das Ende?

Samstag, 22. Juni 2024 | 23:45



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Der Hillary Step ist eine der berühmtesten Passagen des echten Mount Everest. Kurz vor dem Summit ist die Felsstufe ein Nadelöhr, bis zu einem Erdbeben (2015) maß es 12 Meter Höhe bei 70 Grad Steigung. Hier entscheidet sich, wer wirklich oben ankommt und wer unverrichteter Dinge wieder absteigen muss.

André Schürrle erreicht seinen Hillary Step nach Runde 14. Der Körper scheint trotz stetiger Nahrungsaufnahme ausgemergelt, die Müdigkeit nimmt überhand. Die Zweifel am Ankommen, auch am Sinn des Ganzen, sprechen jetzt aus seiner Mimik. Die Finsternis, die Abgründe, denen André nahekommen wollte, erlebt er jetzt. Glücklich und zufrieden wirkt er damit nicht.

Dabei sind es nur noch drei Runden. Das heißt: Etwa drei Stunden, ein bisschen mehr als zehn Kilometer Wegstrecke. Das ist André früher in einem Fußballspiel gelaufen. Er sagt: “Ich bin mental durch, ich will nur schlafen.“

Und er fragt:

Was ist mit Linus?



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Höhenmeter



15. Der Wendepunkt

Samstag, 22. Juni 2024 | 23:55



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Linus ist nicht da, Maximilian Gierl, Fotograf und Freund, schon.

“Was machst du hier?“, fragt Max, mit herausforderndem Unterton.

Der Fotograf begleitet André bei vielen Events. Auch heute zählt er zum “Team Schürrle“, er ist sozusagen der Sherpa mit der Kamera. Und: Maximilian Gierl hat die Herausforderung bereits bestanden. Denn der Schweizer ist Belastungen wie diese gewöhnt, er ist in der Wiege zwischen den Bergen großgeworden. Und er hat schon weit Größeres abgerissen. Zum Beispiel alle 4.000er der Schweiz. Was man halt so macht.

Max weiß, wie er seinen Freund pusht, er baut ihn auf. Pieksend, vor allem herzlich. Und er sagt noch etwas sehr Wichtiges:

Der Linus ist auch wieder im Rennen, der rennt den Golm schon wieder rauf. Der will das schaffen, der will nicht aufgeben.



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Höhenmeter



16. Das Comeback

Sonntag, 23. Juni 2024 | 00:10





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Der letzte Satz treibt André Schürrle zurück in die Nacht. Er gleitet, so formuliert er es später, aus dem deprimierendsten in den glücklichsten Moment seines Abenteuers.

Was Worte, was Freundschaft bewirken kann. Frisches Adrenalin jagt durch seinen Körper. Das Kopfkarussell ist beruhigt, denn Linus geht es gut. Stolz mischt sich unter die aufgehellten Gedanken. Bewunderung für die Zähigkeit des Kumpels. Aber auch der eigene Ehrgeiz leuchtet in der Nacht auf, fast heller als die Stirnlampe, die ihren Lichtkegel auf den matschigen Trampelpfad und rutschigen Fels wirft.



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Höhenmeter



17. Im Ziel

Sonntag, 23. Juni 2024 | 02:42



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Puls

Geschafft.

Wie laut das Ringen mit dem Berg auch war, das Getöse und Getümmel, so ruhig liegt nun das Ziel zu Andrè Schürrles geschundenen Füßen.

21 Stunden, 42 Minuten und 35 Sekunden. Mehr als 9.000 verbrannte Kalorien. Das entspricht etwa 32 Cheeseburgern bei einer bekannten Fast-Food-Kette.

Vor allem aber 9.282 Höhenmeter. Deutlich mehr als eigentlich gefragt waren für sein persönliches Everesting. Andrè zeigt den Beweis auf seinem Smartwatch-Display.

Die letzte Runde hatte es in sich gehabt. Noch mal fast vier Kilometer, noch mal mehr als 500 Höhenmeter. Und das obwohl der imaginäre Everest schon bezwungen ist.

“Die letzte Runde ist so viel härter als die erste, trotz der Euphorie, trotz des Wissens, dass ich das alles fast geschafft habe“, erinnert sich Schürrle später.

Das leicht gequälte Lächeln, das André beim Finish zeigt, spiegelt jedoch nicht seine tatsächliche Emotion wider. Die ist weit größer in diesem Moment. André sagt:

Es ist unglaublich krass, die Freude bei aller Müdigkeit riesengroß. Ich hatte mir das Rennen nicht so schwer vorgestellt – ich war zwischendurch überfordert. Dem Ende nahe. Eigentlich wollte ich nicht mehr. Und es doch zu schaffen, das eigene Ego zu schlagen, besser zu sein, als man sich selbst zugetraut hätte – das gibt mir unfassbar viel Euphorie. Krass, einfach krass, wenn man begreift, was man noch aus dem Körper rauspressen kann, wenn man vermeintlich nicht mehr kann.

Nach dem letzten Satz – und dem letzten Blick aufs Smartwatch-Display – schläft er fast auf dem Tisch in der hell erleuchteten Gaststube ein. Die Finsternis ist fort.





Epilog

Der Tag danach



84 Stunden hatte die Uhr ausgespuckt.

So eine Zahl hatte André Schürrle noch nie von seiner fēnix 7 ausgespielt bekommen.

84 Stunden - damit ist die empfohlene Erholungszeit gemeint. Selbst nach Marathons, sagt der Athlet, wären die Pausenempfehlungen maximal einen oder zwei Tage lang gewesen.

Vor seiner Unterkunft in Bludenz setzt sich André Schürrle vor die Tür, starrt etwas ungläubig auf seine Füße. Mehrere Blasenpflaster zeugen von den Anstrengungen des gestrigen Tages. Die Schuhe haben noch mehr abgekriegt.

Nach dem Everest kommt das Resting, das Ausruhen. Die Beine sollten schnell wieder leicht werden, sagt André Schürrle. Als Fußballprofi musste er oft dreimal in der Woche spielen, immer am Limit. Dass er sich in weniger als 84 Stunden erholt – es erscheint fast sicher.

Doch folgt nach dem Everesting nun der Angriff auf den Qomolangma? André war Stürmer, ein sehr guter sogar. Da ist der Hunger nach mehr in der DNA fest einprogrammiert. Er räuspert sich, sagt dann:

Ich kanns mir momentan nicht vorstellen. Das ist mir zu riskant, zu waghalsig. Ich mag es lieber, wenn ich es sicher in der Hand habe, aus dem Abgrund wieder rauszukommen.





Das Everesting von André – in Zahlen